Debut in Baden
Kaum hatte Franz von Suppé als Dirigent und Komponist am Theater begonnen, verschlug es ihn schon nach Baden. Da war weit und breit noch nichts von Operette zu hören. Zu der Zeit hatte noch nicht einmal Jacques Offenbach in Paris das Genre initiiert. Da verstand man unter Operette noch ein biederes Singspielchen ohne genügend Saft und Kraft für Oper.
Im September 1840 hatte Suppé - nach einer soliden, umfassenden Ausbildung in Zara und Wien auf Basis der im Habsburgerreich typischen und seit 1805 verpflichtend eingeführten Kompositionslehre des Generalbasses - sein erstes festes Engagement am Theater in der Josefstadt gefunden. Sein "Prinzipal" dort war Franz Pokorny, ein ehemals armer Schullehrerssohn aus Böhmen, der es vom begabten Klarinettisten zum erfolgreichen mehrfachen Theaterdirektor gebracht hatte. Denn neben der Josefstadt führte er auch noch die Häuser in Pressburg und Ödenburg (Sopron) - und ab 1837 bis 1844 eben auch in Baden.
Baden war Pokorny nicht unbekannt. Er hatte bereits als Klarinettist eine Sommersaison am Theater in Baden verbracht - Baden spielte bis 1855 nur im Sommer - und hatte sich 1827 bis zum Orchesterinspektor hochgearbeitet. Als Direktor des Theaters begründete Pokorny 1841 die Tradition der Badener Sommerarena, indem er eine rund 900 Personen fassende Arena im Kurpark, das "k. k. privilegierte Tags-Theater im Park der landesfürstlichen Stadt Baden" erbauen ließ. In Ausnützung aller Synergieeffekte setzte der Direktor seinen neuen Kapellmeister und Hauskomponisten nicht nur am Josefstädter Theater ein, sondern auch in Pressburg und Baden. Und schon bald trat Franz von Suppé nicht nur als Dirigent in Baden in Erscheinung, sondern stellte in der Badener Sommerarena auch eine eigene Komposition vor, die Musik zu einem "historischen Gemälde" von Franz Xaver Told: "Die Bestürmung von Saida" (3. September 1841). Viele Bühnenmusiken, die Suppé für Wien geschaffen hatte, folgten noch bis zum Ende der Direktion Pokorny, der seine Produktionen frisch-fröhlich zwischen Wien, Pressburg, Ödenburg und Baden hin und her schickte. Ab Sommer 1841 wurden bei diesem Hin und Her auch die logistischen Probleme geringer, da ab 20. Juni die Südbahn von Wien bis Wiener Neustadt verkehrte. Suppés Zeit in Baden scheint dem Komponisten jedenfalls so nachhaltig in Erinnerung geblieben zu sein, dass er die Uraufführung einer frühen Komposition ("Der Musikant und sei Liab", eine "Dorfg'schicht" von dem damals außerordentlich geschätzten Mundartdichter Anton Baron Klesheim) in einem viel später erstellten Werkverzeichnis nach Baden verlegte, obwohl das Stück weder im Repertoire-Verzeichnis des Badener Theaters noch der Arena auftaucht, also schon vorher in Ödenburg oder Pressburg uraufgeführt worden sein muss. Denn Anton Baron Klesheim, der ein Leben quer durch die deutschsprachigen Länder Europas mit Vortragsabenden seiner Mundartdichtungen führte, war zur Pokorny-Zeit kurzfristig Theatersekretär in Pressburg und Ödenburg gewesen. Er verstarb übrigens 1884 in Baden, wohin er zog, als er sein Ende nahen fühlte, und ist hier auch beerdigt. Es hat zwar nichts mit Suppé und "Boccaccio" zu tun, sei aber der Kuriosität halber erzählt. Am Tag vor seinem Ableben schrieb der sterbenskrank darniederliegende Dichter noch ein Gedicht, wie das Badener Bezirksblatt vom 8. Juli 1884 berichtete:
"I bin eig'ns nach Bad'n zog'n, in Bad'n will i sterb'n -
Die Central-Friedhofs-Würmerln soll'n mein bisserl Leib nit erb'n."
Nach Empfang der Sterbesakramente verlangte der Baron noch ein Glas Champagner - und verschied.
Der erste "Boccaccio" in Baden
"Boccaccio" wurde am 1. Februar 1879 am Carl-Theater in Wien uraufgeführt, wohin Suppé nach dem Theater an der Wien im wörtlichen Sinne übersiedelt war, denn er lebte an beiden Häusern während der Engagements mit jeweiliger Ehefrau direkt im Theatergebäude. Das damals noch im alten Kornhäusel-Bau beheimatete Badener Theater - zu der Zeit unter der erfolgreichen, auf gute Operettenaufführungen bauenden Direktion von Alfred Schreiber - hing sich sofort an den großen Wiener Premierenerfolg der neuen Suppé-Operette an und brachte sie bereits am 22. November 1879 zur Badener Erstaufführung. Mit Sicherheit konnte Schreiber, der als erster "Frosch" in der "Fledermaus" in die Theatergeschichte eingegangen ist, nicht die Aufführung des Carl-Theaters kopieren, denn dieses nannte in der Ankündigung der Premiere in der "Neuen Freien Presse" 48 Rollen. Selbst unter Einbeziehung des gesamten Chors konnte das Badener Theater nicht so viele Leute auf die Bühne bringen. Denn man kam nur auf 44 darstellende Mitglieder, immerhin 30 Solisten und 14 Chormitglieder. Beachtlich allerdings, dass im Orchestergraben 36 Musiker saßen, mit denen der Orchesterdirektor Schreyer ordentlich musizieren konnte. Auch wenn ausgerechnet die Ausgabe des "Badener Boten" im Badener Stadtarchiv fehlt, in der ein Herr Theodor Koch 1879 die Aufführung rezensierte, darf man mit ziemlicher Sicherheit annehmen, dass der Intendant höchstpersönlich inszeniert hatte. Einer kleinen Notiz in einer vorhergehenden Ausgabe kann man entnehmen, dass ein Fräulein Renom die Titelrolle gesungen hat - und eine nachfolgende Ausgabe berichtete von der großen Beliebtheit, der sich die Operette in Baden 1879 erfreute.
Gipfel einer Lebensleistung: "Boccaccio"
Mit "Boccaccio" hatte Suppé den Stoff seines Lebens gefunden, brachte er doch sein durch und durch italienisches Herz zum Glühen: Geboren 1819 in Spalato, dem heutigen Split, das damals noch zu Venetien gehörte, mit Großeltern väterlicherseits aus Cremona, wohin die Familie aus den Niederlanden ausgewandert war, mächtig stolz auf den ursprünglich italienischen Akzent seines Namens (Suppè), der nur nicht im internationalen Betrieb durchzusetzen war, von der italienischen Kultur geprägt, mit einer nie versiegenden Liebe zur italienischen Belcanto-Oper erfüllt, die ihn bis ins Alter von einer Karriere als Opernkomponist träumen ließ. In Wien, wohin er mit seiner Mutter zum Großvater mütterlicherseits nach dem Tod des Vaters übersiedelte und sein Studium abschloss, traf er auf einen anderen Kulturkreis, der seinem Leben auch eine andere Richtung gab. Geschult durch die kompositorische Fron als Hauskomponist an zwei wesentlichen Vorstadttheatern wurde er mit einem neuen Genre konfrontiert, das aus Paris eingesickert war - mit der Operette! So hat er mit den Mitteln der geliebten italienischen Oper das französische Produkt Offenbachs, der übrigens auch 1819 geboren war, ans Wiener Volksstück, das Suppé Jahrzehnte als Musiker bedienen musste, angekoppelt und in den Gefühlsbereich des Wiener Theaters überführt.
Nach erfolgreichen Einaktern war ihm bereits 1876 mit "Fatinitza" ein abendfülllendes Meisterwerk gelungen, mit dessen Textbuch und Handlung die beiden vortrefflichen Librettisten der "goldenen" Wiener Operette alle Wünsche des Publikums erfüllt hatten, indem sie in einer verklemmten Zeit die Bedürfnisse nach erotischen Reizen mit Hosenrollen befriedigten, in denen im Alltag in langen Röcken verpackte Damen in Hosen Bein und Po zeigen und androgyne Vorlieben bedienen konnten. Die Librettisten F. Zell und Richard Genée, beide aus Deutschland stammend, entwickelten perfekt die Dramaturgie der Wiener Operette, als deren eigentlichen Motor man ruhigen Gewissens Genée bezeichnen kann, den universell gebildeten Mann, der auch als Komponist bei Operetten gewichtig mitreden konnte. Er war der Intellektuelle, Ordnende des Teams, das der Abenteurer Zell, der eigentlich Camillo Walzel hieß, mit seinen Stories versorgte.
Das Libretto für "Boccaccio" ließ die beiden Librettisten wieder reumütig zum Komponisten Suppé zurückkehren, nachdem Sie bei Johann Strauss Sohn mit "Prinz Methusalem" keinen mit "Fatinitza" vergleichbaren Erfolg eingefahren hatten. Zell und Genée wussten wohl, dass sie mit der Figur Boccaccios, noch dazu als Hosenrolle, den Italiener in Suppé ködern konnten - und dieser wusste wiederum, dass er mit den beiden Herren das Beste, was ein Operettenkomponist in Wien als Librettisten bekommen konnte, zur Seite hatte.
Zell und Genée folgten der Anregung eines französischen Vorbilds von 1835 und benutzten ebenfalls Ausschnitte aus dem Hauptwerk des Renaissance-Dichters Boccaccio. Nach der Pestepidemie in Florenz war seine Novellensammlung "Il decamerone" (1349-53) entstanden. In Episoden der Novellen stellten Zell und Genée Boccaccio als Hauptperson. Diese Ende des 19. Jahrhunderts vom Publikum als schlüpfrig empfundenen Episoden machten den Dichter zum frivolen Vorkämpfer freier Liebe und freien Lebens, was nicht nur Wiener Zuschauer enthusiasmierte.
Eine Operette ist keine Kulturgeschichte
Den Autoren lag es fern, einen historischen Exkurs über Boccaccio auf die Bühne zu bringen. So darf man manches in der Operette nicht so genau nehmen. "Boccaccio" spielt 1331 - da war der Dichter gerade einmal 18 Jahre alt. Schwer vorstellbar, dass er damals schon einen derartigen literarischen Ruf hatte, der die düpierten Florentiner Bürger auf die Barrikaden trieb. Außerdem war Boccaccio bereits mit 14 Jahren zur kaufmännischen Lehre nach Neapel in eine Filiale der Compagnia di Bardi geschickt worden, dem Arbeitgeber seines Vaters in Florenz. Erst 1840, also mit 27 Jahren, kehrte Boccaccio wieder nach Florenz zurück. Seine Liebe zu Fiametta, der unehelichen Tochter des neapolitanischen Königs Robert von Anjou, hatte allerdings eine reale Basis und entsprang nicht nur der Phantasie Zells und Genées.
Nicht so genau darf man es auch mit dem Verkauf der Bücher durch einen Kolporteur und der Bücherverbrennung im Finale des ersten Aktes nehmen. Denn Johannes Gutenberg erfand erst Mitte des 15. Jahrhunderts den Buchdruck in Europa. In Italien entstand 1469 in Venedig die erste Buchdruckerei. 1331 hätte es also in Florenz ein Heer von Schreibern geben müssen, wäre den Autoren an historischer Genauigkeit gelegen gewesen. Hauptsache, Suppé hatte ein meisterhaftes Buch, das Gelegenheit für italienische Oper, für die frivolité Offenbachs und für wienerisches Sentiment bot, also die ideale Mischung für ihn.
Hans-Dieter Roser
Beitrag für das Programmheft der Inszenierung von BOCCACCIO in der Sommerarena der Bühne Baden bei Wien, 2011, mit freundlicher Genehmigung des Autors. (11.05.2014)