Wien hat ein gestörtes Verhältnis zu Franz von Suppé
Als der Intendant der Wiener Volksoper in einem Interview des Operettenboulevards (BR Klassik) gefragt wurde, warum er im Suppé Jahr 2019 eine Operette von Benatzky, aber keine Suppé Operette auf dem Spielplan habe, sagte er sinngemäß, er wisse gar nicht, wann in seinem Haus zum letzten Male eine Suppé Operette aufgeführt worden wäre; während seiner 12-jährigen Amtszeit jedenfalls nicht. Da träfe es sich gut, dass die Volksoper eine Co-Produktion mit einer deutschen Bühne eingegangen sei, bei der man eine Suppé Operette vorbereite. Die Aufführung in Wien werde aber erst im nächsten Jahr stattfinden. Mit der Co-Produktion ist Der Teufel auf Erden
in Chemnitz gemeint, der aber auch 2019/2020 noch nicht auf dem Spielplan der Volksoper steht.
Nun, ich könnte dem Herrn Intendanten sagen, wann zum letzten Mal Suppé an der Volksoper gespielt wurde; es war Boccaccio
in der Spielzeit 2003/2004 in der Inszenierung von Helmut Lohner mit einigen Wiederaufnahmen bis ins Jahr 2008 hinein; also das müsste er ja gerade noch mitgekriegt haben.
Diese Wiener Ignoranz Suppé gegenüber hat ja auch Geschichte. Ich habe es an anderer Stelle schon mal erwähnt: In Wien hatte man 2008 zwar die 150-jährige Wiener Operettentradition, bezogen auf die Wiener Erstaufführung der Verlobung bei der Laterne, mit einem Gala-Abend in der Wiener Volksoper gefeiert, aber 2010 trotz prominenter Fürsprache keine Notiz vom 150-jährigen Jubiläum der Entstehung der Wiener Operette (Das Pensionat
von Franz von Suppé) nehmen wollen.
Nun, ich glaube, das Geheimnis ist gelüftet, warum dies so ist. Die Wiener können ja gar nicht wissen, dass zumindest in Fachkreisen Franz von Suppé als der Schöpfer der Wiener Operette gilt. Dieser Eindruck entsteht zwangsläufig, wenn man diesen Text liest:
Die Wiener Operette entwickelte sich als Gegenpol zur Offenbach-Rezeption in Wien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Wesentliche Gestaltungsmerkmale von Offenbachs Werken, komponiert für ein Pariser Publikum, sind Parodie, Satire und Groteske, gewürzt mit einem Schuss prickelnder Erotik bis hin zu Frivolität.
Wiewohl in Wien zunächst gut angenommen, fanden diese Ingredienzien auf Dauer nicht die Zustimmung von Publikum und Presse. Zwar bewegten sich die ersten Wiener Erzeugnisse im Fahrwasser Offenbachs, doch verlangten die Wiener bald nach einer aus ihrer Theatertradition heraus entwickelten eigenständigen Operette. Sich auf die Alt-Wiener Volkskomödie, das österreichisch-wienerische Singspiel und das Zaubermärchen besinnend, gegenüber dem „Fremden“ das „Vaterländische“ bevorzugend, den Wiener Walzer markant integrierend, dem mit der Gründerzeit aufstrebenden Großbürgertum Rechnung tragend, rauschte endlich mit der ersten Operette von Johann Strauss (Sohn), Indigo und die vierzig Räuber, Erleichterung durch den medialen Blätterwald: „Strauss ist ohne Wien ebenso undenkbar, als Wien ohne Strauss“ (Premierenkritik von Ludwig Speidel, in: „Fremden-Blatt“, 12. 2. 1871). [...]
Der Text entstammt der Webseite des
Wiener Instituts für Strauss Forschung und ist als Nachlese gedacht zur Veranstaltung „Tanzsignale 2019" mit dem Thema „ Zur Geburt der Wiener Operette: Musikalische und historische Wurzeln. Heute – Reminiszenz oder Aktualität?“
Als ich das Programm dieser Veranstaltung las, fand ich u. a. diesen Programmpunkt:
Die Geburt der Wiener Operette: Musikalische und historische Wurzeln
Der Universitätslehrgang Klassische Operette (Leitung: Wolfgang Dosch) setzt sich künstlerisch sowie wissenschaftlich mit dem österreichisch-wienerischen Singspiel, den Zaubermärchen und weiteren Gattungen auseinander, die als Wurzeln der „Wiener Operette“ im eigentlichen Sinne gedient haben. Anlässlich seines 200. Geburtstags wird das Programm dem Operettenkomponisten Franz von Suppè (1819 – 1895) musikalischen Tribut zollen.
Aufgrund dieser und anderer Angaben konnte ich von einer objektiven Betrachtungsweise des Themas durch die Straus-Forschung ausgehen. Daher wartete ich ungeduldig auf die monatelang nur angekündigte Nachlese dieser Veranstaltung. Und endlich ist sie nun da, und ich muss sagen, der Berg kreiste und gebar ein Mäuslein.
Bei diesem auf wenige Zeilen zusammengestauchtem Text kann von einer objektiven Betrachtungsweise nicht mehr die Rede sein. Der Text ignoriert völlig die 11 Jahre Wiener Operette ohne Johann Strauß, in welchen Suppé u. a. die Operetten Das Pensionat, Zehn Mädchen und kein Mann, Flotte Bursche, Die schöne Galathée, Leichte Kavallerie, Banditenstreiche, Die Frau Meisterin
und Die Jungfrau von Dragant
geschrieben hat. Und obwohl es bekannt sein sollte, dass es gerade Suppé war, welcher nach fast 20-jähriger Bühnenpraxis im Wiener Volkstheater eben dessen Elemente neben ein wenig Offenbach und seiner Vorliebe für italienische Opern in die Wiener Operette einbrachte und sie somit entscheidend prägte, suggeriert dieser Text, das typisch Wienerische sei erst mit Johann Strauß realisiert worden. Mit Die Frau Meisterin
(1869) hatte Suppé gar ein echtes Wiener Zaubermärchen als Operette vertont und musste sich dafür von der Presse heftig kritisieren lassen. Letztere Operette war übrigens schon, wie auch Die Jungfrau von Dragant
(1870) eine abendfüllende. Die oftmals andernorts kolportiere Behauptung, Fatinitza
(1876) sei Suppés erste abendfüllende Operette gewesen, scheint wohl ebenfalls nahelegen zu wollen, dass Strauß in Wien der erste war, der Werke in voller Länge auf die Bühne brachte.
Solche verkürzten und vereinfachten Darstellungen zugunsten von Johann Strauß finden sich übrigens zuhauf. Sie können deshalb nicht zufällig sein sondern künden zumindest von einem kollektiven Vergessen oder Verdrängen, wenn sie nicht gar Methode haben.
Uwe Aisenpreis
Januar 2020